- Materialforschung: Wege und Ziele
- Materialforschung: Wege und ZieleDie Materialwissenschaft beschäftigt sich mit der Entwicklung von Produktions- und Verarbeitungsverfahren fester oder — seltener — flüssiger Stoffe sowie mit der Erforschung ihrer Eigenschaften. Als anwendungsorientierte Disziplin liegt dabei der Schwerpunkt in der Herstellung von technischen Erzeugnissen oder Konsumgütern. Da es sich hier meist um Feststoffe handelt, ist die Festkörperphysik neben der Chemie eine der wichtigsten Grundlagen der Materialforschung.Vor allem industrielle Anwender stellen eine ganze Reihe verschiedener Erwartungen an die moderne Materialwissenschaft: Sie fordern neue Materialien mit ganz bestimmten Eigenschaften oder die Verbesserung oder Neuentwicklung von Herstellungsverfahren und Bearbeitungsmethoden. Aber auch altbekannte Materialien in ihren Fähigkeiten über das bekannte Maß hinaus zu steigern oder diese Stoffe in ihren Eigenschaften an die anderer Substanzen anzunähern ist oft Gegenstand der materialwissenschaftlichen Forschung.Materialwissenschaftler untersuchen daher die mechanischen, elektrischen, magnetischen, chemischen und thermischen Eigenschaften der Werkstoffe und versuchen, durch geschickte Veränderung dieser Charakteristika die vorgegebenen Ziele zu erreichen. Beachten müssen sie aber auch, wie sich die Werkstoffe im Lauf der Zeit, insbesondere durch thermische, mechanische oder chemische Einflüsse, verändern, beispielsweise ob sie korrodieren, ob Materialermüdung auftritt und wie sich diese unerwünschten Erscheinungen unterdrücken oder verhindern lassen. Ein weiterer Aspekt, den ein Materialwissenschaftler beachten muss, wenn sein Werkstoff irgendwann in den Markt eingeführt werden soll, sind ästhetische Gesichtspunkte. »Look and Feel« eines Werkstoffs können durchaus für den wirtschaftlichen Erfolg entscheidend sein. Darüber hinaus gehören die ökologischen Aspekte eines Werkstoffs zu seiner vollständigen Charakterisierung, wie sie die Materialwissenschaft leisten muss.Materialwissenschaft an der HochschuleIm Lauf des 20. Jahrhunderts wurde eine Vielzahl neuer Werkstoffe entwickelt, und mit ihnen bot sich eine Fülle bis dahin unbekannter Eigenschaften. Die Breite und Tiefe dieser Erkenntnisse führten zu einer Emanzipation des Faches Werkstoffkunde, das lange Zeit als Teil der ingenieurwissenschaftlichen Disziplinen galt. Immer häufiger werden daher spezielle, eigenständige materialwissenschaftliche Studiengänge angeboten, die aber nach wie vor stark anwendungsorientiert sind. Bestandteile dieser Ausbildung sind neben Physik, Chemie und physikalischer Chemie die klassischen Ingenieurfächer wie Elektrotechnik und Metallurgie. Die Vielfalt der Fächer zeigt den interdisziplinären Charakter der Materialwissenschaft.Was ist Gegenstand der Materialwissenschaft?Aus der reichen Fülle aller Werkstoffe wird in der Materialwissenschaft in der Regel nur eine ausgewählte Untermenge betrachtet, wobei der Gegenstand der Untersuchung sowohl ihre Funktion (»Für welches Einsatzgebiet brauche ich das Material? Was muss es können?«) als auch ihr innerer Aufbau (»Welche innere Struktur hat der Werkstoff? Wie kann ich sie zielgerichtet verändern?«) sein kann.Die materialwissenschaftliche Fragestellung kann sich also danach richten, ob ein neuer Stoff beispielsweise als Halbleiter, Sensor oder Supraleiter eingesetzt werden soll beziehungsweise welche mechanischen, elektrischen oder optischen Eigenschaften er aufweisen soll. Eine andere, häufig anzutreffende Sichtweise stellt den atomaren oder molekularen Aufbau der Werkstoffe in den Mittelpunkt.Ursprünglich gut gegeneinander abgegrenzte Materialklassen überschneiden sich in letzter Zeit immer mehr. So existieren bereits Keramiken, deren Härte sich durchaus mit Stahl vergleichen lässt, oder Verbundwerkstoffe, welche das geringe Gewicht von Polymeren mit der Festigkeit und Verformbarkeit von Stahl vereinen. Trotzdem ist eine Einteilung der Stoffe nach der chemischen Struktur in vielen Fällen immer noch sinnvoll. Es bietet sich an, die Klassifizierung von Werkstoffen zu Metallen, Gläsern, Keramiken, Polymeren und Verbundstoffen auch weiterhin beizubehalten, da diese Grundstoffe zumeist der Ausgangspunkt für Neuentwicklungen sind. Zu den Metallen zählen nicht nur reine Metalle wie Eisen oder Kupfer, sondern auch Legierungen wie Stahl oder Messing. In der Materialwissenschaft werden Gläser bisweilen zur Keramik hinzugezählt. Keramische Stoffe umfassen sowohl das altbekannte Porzellan als auch moderne Hochleistungskeramiken. Polymere bestehen aus Makromolekülen, die eine lange Abfolge kleiner Baueinheiten darstellen. Zu ihnen zählen Kunststoffe, aber auch natürliche Materialien wie etwa Kautschuk, Stärke oder Proteine. Verbundstoffe sind Kombinationen aus mehreren Stoffen, die unterschiedlichen Werkstoffgruppen angehören und im Vergleich zu den Ausgangssubstanzen deutlich neue Eigenschaften aufweisen. Man erhält dabei leichte, stabile, temperaturbeständige, aber dennoch gut formbare Materialien, die etwa im Automobilbau oder in der Raumfahrttechnik eingesetzt werden.Wie erklären sich nun die spezifischen Eigenschaften dieser Materialgruppen? Warum leiten Metalle so gut elektrischen Strom und Wärme? Warum sind im Gegensatz dazu Keramiken meist elektrische Isolatoren, und warum sind sie so hart und spröde? Und wie erklären sich die mannigfaltigen Eigenschaften von Kunststoffen?Um dies zu verstehen, genügt es nicht, lediglich zu wissen, in welche Gruppe man einen bestehenden Werkstoff einordnen kann, sondern man muss seinen inneren Aufbau kennen. Dank moderner Analyseverfahren kann die mikroskopische Struktur genauer bestimmt werden, und diese Kenntnisse lassen sich nutzen, um gezielt in die Eigenschaften des Werkstoffs einzugreifen. Dabei muss beachtet werden, dass Struktur, Eigenschaften und Bearbeitungsweise von Werkstoffen oft eng miteinander verknüpft sind. Variiert man beispielsweise die Bearbeitungsmethode eines Werkstoffs, so können sich sowohl dessen Struktur als auch dessen Eigenschaften ändern. Umgekehrt machen bestimmte Eigenschaften (zum Beispiel die Härte) besondere Bearbeitungsmethoden erforderlich.Zum Verständnis und zur Vorhersage von Materialeigenschaften bedient man sich in zunehmendem Maß der statistischen Mechanik und der Quantenmechanik, mit denen eine Großzahl der Eigenschaften der Werkstoffe auf der mikroskopischen Ebene beschrieben werden kann. Auf diese Weise lassen sich gezielt neue Eigenschaften von Materialien suchen und realisieren. Auch hier zeigt sich, dass der rein empirische Ansatz früherer Jahrhunderte inzwischen einer wissenschaftlichen Methodik gewichen ist.Dr. Gunnar RadonsWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:Askeland, Donald R: Materialwissenschaften. Grundlagen, Übungen, Lösungen. Aus dem Amerikanischen. Heidelberg u. a. 1996.Digest: Moderne Werkstoffe, bearbeitet von Uwe Reichert und Gerhard Trageser. Beiträge von Norbert Neuroth u. a. Heidelberg 1996. Sonderheft »Digest 3/1996« der Zeitschrift »Spektrum der Wissenschaft«.Göpel, Wolfgang / Ziegler, Christiane: Einführung in die Materialwissenschaften. Physikalisch-chemische Grundlagen und Anwendungen. Stuttgart u. a. 1996.Henzler, Martin / Göpel, Wolfgang: Oberflächenphysik des Festkörpers. Stuttgart 21994.Rudden, Michael N. / Wilson, John: Elementare Festkörperphysik und Halbleiterelektronik. Aus dem Englischen. Heidelberg u. a. 1995.VDI-Lexikon Werkstofftechnik, herausgegeben von Hubert Gräfen. Neudruck Düsseldorf 1993.
Universal-Lexikon. 2012.